Über das Lesen von Zeit.
„Wie spät ist es eigentlich?“ hab ich mich heute schon mindestens dreizehn Mal gefragt – und danach automatisch auf das Handy geschaut. Wieso schaue ich auf mein Smartphone und nicht auf meine Uhr, wenn ich die Uhrzeit wissen will? Ganz einfach: Weil ich gar keine Uhr mehr trage! Meine Lieblingsuhr ist nämlich weg, und so habe ich das Zeit-Ablesen auf das Telefon umgeleitet. In einen Topf geworfen mit Telefonieren, Nachrichtenschreiben, Emailen, Fotografieren und vielem Alltäglichem mehr.
Multitalentierte Alltäglichkeiten sind heute nichts Neues, waren aber einmal der letzte Schrei. Als ich mich in den 90er Jahren um einen Job als Junior Texter in Frankfurt bewarb, wurde meinen Mitbewerbern und mir als Einstellungstest ein sogenannter Copy-Test zugeschickt, der Ideenreichtum und Schreibtalent auf die Probe stellen sollte. Es gab zehn Kurzgeschichten zu schreiben, die allesamt mit dem Satz „Otto kommt, schnell in den Schrank!“ aufhören mussten. Eine weitere Aufgabe war, sich Produkte mit „Zusatznutzen“ auszudenken.
Deutlich erinnere ich mich daran, mit welchem Elan ich Kühlboxen mit integriertem Sonnencremespender, Turnschuhe mit ausklappbaren High-Heels, Sonnenbrillen mit eingebautem Radio und Zahnpasten als Survival-Mahlzeit ersann! Unter uns gesagt: In der Realität waren Multi-Tasking-Produkte schon immer Dinge, die mehr wollten als sie können sollten. Deinge für Leute, die alles gleichzeitig machten, doch nichts so richtig.
Längst hat sich der Trend wieder in die andere Richtung gedreht. Statt Gleichzeitigkeit und Multitasking sehnen wir uns nach klaren Funktionen, nach Ein-Deutigkeit, nach dingfester Monogamie: Parmesanreiben sollen nichts als Parmesam reiben. Gästebetten sollen einfach nur Gäste betten. Handyhalter sollen Handys halten und sonst nichts.
Wobei wir wieder beim Thema Handy wären – und eben auch beim Thema Zeit. Ich frage mich: Warum soll mir mein Telefon die Uhr ersetzen? Weil ich es eh in irgendeiner Tasche dabei habe? Weil es für mich immer erreichbar ist? Die Alleskönnerschaft der Handys in allen Ehren – den Wert der Zeit ehren sie nicht. Es ist sinnlicher, die Zeit am eigenen Puls zu spüren. Es ist schön, wenn uns kreisende Zeiger den Tageslauf zeigen. Ganz ohne konkurrierend aufblinkende Textnachrichten würden wir den Wert der Zeit, ja sogar der Lebenszeit, ein wenig höher und bewusster schätzen.
„Halt’ die Welt an, stopp’ die Zeiger der Uhren“, heißt eine Zeile in einem sehr schönen Lied.
Ich sag nur: an die Handgelenke mit der Zeit!